Erinnerungen sind das Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann!

 

Aufgeschrieben und vorgetragen von Helmut Michaelis
bei der Jubilarehrung am 28. Februar 2006 anlässlich seiner Ehrung für 60 Jahre Mitgliedschaft
in der Ortsgruppe Bremerhaven der NaturFreunde Deutschlands.

 

Ich erinnere mich ....

Es war ein ehemaliger Schulfreund und der spätere Jugendgruppenleiter Hans Nordmann, dem ich eines Tages im Sommer 1946, 12 Monate nach Kriegsschluss, in den damaligen Kleingärten vor dem Wesermünder Hauptbahnhof begegnete. Erfreut über das Wiedersehen nach der Ausbombung, fragte er mich, ob ich Lust hätte zum Wandern und Singen. Dann sollte ich doch am nächsten Sonntag mal mitkommen nach Wollingst.
Der Ort war mir bis dahin unbekannt. Dort hätten die NaturFreunde, die inzwischen von der amerikanischen Militärregierung lizenziert waren, ein Haus direkt an einem See. Außerdem treffen sich die Jugendlichen einmal in der Woche in der Storm-Schule zum Diskutieren, Planen von Wanderungen, Singen usw. Und – wir waren damals gerade 16 Jahre alt – schöne Mädchen gibt es da auch. Na denn, so sei’s geschehen. Ich sagte zu.
Allein durch die Mundpropaganda hatte der Verein bald eine stattliche Jugendgruppe mit Volkstanz- und Laienspielerschar, später auch eine Fotogruppe.

Ich erinnere mich ....
Was konnte damals schöner sein, als aus der Trümmerwüste der Stadt zwischen Leher Tor und Georg-Seebeck-Straße hinaus zufahren in die Natur am Wollingster See. Aber wie kamen wir dort hin? Glücklich derjenige, der noch ein Fahrrad besaß. Möglich auch mit der Bahn bis Geestenseth oder Frelsdorf und weiter zu Fuß durch die Löh. Oder vom Bahnhof Stubben über Beverstedt und Osterndorf.
Oder man entschied sich für den Möbelwagen, wenn er denn fuhr. Den steuerte der 1.Vorsitzende Heinrich Frey selber. Es war ein aus ehemaligen Wehrmachtsbeständen übrig gebliebener Kastenwagen. Darin saßen wir Burschen und Mädels auf Wolldecken oder auf Matratzen bei nur einer kleinen Deckenbeleuchtung. Los ging es bei der Möbelfabrik Schlüter am Wulsdorfer Bahnhof, sonnabends um 16 Uhr. Die Ankunft am See hing von den zwei Kilometern Sandweg zwischen Dorf und See ab. Bei anhaltend nassem Wetter war der Weg aufgeweicht und zerfahren. Um den Wagen zu entlasten, stiegen wir aus und gingen die zwei Kilometer Zufuß.
Es war immer eine Freude unter uns Jugendlichen, wieder eine 48-Stundenwoche hinter uns zu lassen. Freude zu haben an einer Freizeit, die ausgefüllt war mit Wandern, Singen, Volkstanzen und dem Baden im Wollingster See.

Ich erinnere mich ....
an Wanderungen mit den älteren Naturfreunden, die mit Gitarren und Mandolinen unserer Wandergruppe vorweg gingen; an eine Nachtwanderung von Schiffdorf über Hosermühlen, Donnern, am Bülter See vorbei nach Wollingst. Gegen 1 Uhr nachts kamen wir bei einer Hochzeitsgesellschaft vorbei, die uns zum Bier einlud. Unsere Lieder damals:
            Wir sind jung, die Welt ist offen, unser Sehnen, unser Hoffen gilt einer besseren Welt. (leicht abgewandelt)
oder im Oberharz
            Samstags, wenn die Arbeitszeit zu Ende ...
            Heute wollen wir das Ränzlein schnüren ...
            Wer recht in Freuden wandern will ...

Ich erinnere mich ....
an Onkel Franzens Hütte, am See unter Bäumen, in der wir abends seinem Spielen auf der Zither lauschten; an die Heidefeste mit dem abendlichen Hinausschwimmen auf den See mit brennenden Laternen auf unseren Köpfen; an das Fußballspielen barfuss auf der Weide; an die unendlich vielen Federballturniere am Netz; an die Nordmannkuhle oben auf dem damals noch baumlosen Seeberg, die für Paare mit den Schmetterlingen im Bauch ideal war für die ersten Körperkontakte; an die vielen Abende im Tagesraum mit geselligen Spielen und Sketschen – einfach nur so. Es war schön, was einige Freunde so hervor brachten.

Ich erinnere mich ....
an das erlernen des Spielens auf der Mandoline 1947 bei Ernst Scheel in der Küche. Wie oft standen wir nach dem Unterricht abends in der frostigen Kälte in einer noch erhaltenen Haustür und warteten auf die unpünktliche Straßenbahn. Das Mandolinen- und Lautenorchester brauchte Nachwuchsspieler.
... an die Volkstanzabende in der Turnhalle der Pestalozzi-Schule unter der Regie von Heinrich Frey und mit den Spielern Ernst Scheel, Heinz Tholen, Ernst Wendt u. a. mit ihren Zupfinstrumenten.
... an die Dunkelkammer der Fotogruppe, in der wir Abzüge und Vergrößerungen machten, die aber auch sonst für unsere Jahrgänge einen gewissen „Charme“ hatte.

Ich erinnere mich ....
an die katastrophale Ernährungslage. Umso mehr waren wir einigen Wollingster Bauern dankbar, wenn wir zu ihnen kamen und sie uns Milch, Eier, Schmalz oder selbst gemachten Käse abgaben, eine willkommene Ergänzung zu den kargen Rationen auf der Lebensmittelkarte. Es war ein gutes Verhältnis zwischen den Naturfreunden und den Bauern, das wohl auf die Zeit von vor 1933 zurückzuführen war.
Es ging immer recht fröhlich unter uns Jugendlichen zu. Und manch hart gekochtes Ei wurde aus Übermut an des Nachbarn Stirn aufgeschlagen. Aus einer für zwei Personen angesetzten Milchsuppe wurde nicht selten eine für sechs. Erst zu dünn, dann zu dick, wieder zu dünn.
Im Jahr 1947 wurde die Vergrößerung des Naturfreunde-Hauses realisiert, größere Küche mit Kessel, Einbau von Duschen und Toiletten. Bis dahin stand das Häuschen mit dem Herz in der Tür zwischen den Tannen weit hinter dem Haus. Auch musste für die Wasserversorgung ein neuer Brunnen her. Dieser wurde direkt hinter dem Keller angelegt. Beide Vorhaben wurden mit Hilfe der Mitglieder durchgeführt. An einem Arbeitstag gab es kistenweise Bücklinge und Rübensirup aus Eimern zu essen.
Die Steine zum Anbau des Hauses wurden aus den Trümmern des Hauses unseres Mitglieds Heinz Koopmann in der Straße Süderwürden geborgen, gesäubert und verladen. Holzbalken und sonstiges Baumaterial sollte aus dem Abbruch der Jugendherberge Wüstewohlde gewonnen werden. Beim Transport wollten uns die Amis mit einem großen Truck helfen. Es war ein bitterkalter, frostiger Morgen. Wir erwarteten ihn um 7 Uhr bei der Industrie- und Handelkammer. Ich hatte bereits eine Pfanne voll Bratkartoffeln im Bauch, von meiner Mutter in Fischfett gebraten. Nur der Trucker ließ uns in der Kälte stehen, er kam den Tag nicht mehr.
Der Anbau wurde im September 1947 eingeweiht, Der kleine Tagesraum wurde bald von Schachspielern und Leseratten genutzt.

Ich erinnere mich ....
Jugend ist auch immer Opposition.
In einem ausgedienten Straßenbahnwagen als Warte- und Trinkhalle am Jägerhof, bewirtschaftet von Günter Litter, trafen wir uns, wenn wir eigene Gedanken zum Vereinsleben, auch konträr, entwickelten. Unsere Mädels wiederum hatten sich mit kritischen Stimmen der „Alten“ auseinander zusetzen. Denn die sahen es überhaupt nicht gerne, wenn die Mädchen sich die Fingernägel lackierten und den Lippenstift benutzten. Das war verpönt und galt als unschön.

Ich erinnere mich ....
nicht zuletzt an Heinrich Frey, der sich in den Jahren nach dem Krieg die Vereinsarbeit, insbesondere die Jugendarbeit zu Eigen machte. Die Geldquellen der Stadt wusste er geschickt anzuzapfen. Sein Wirken ist heute noch zu spüren.

So waren es viele Erlebnisse, die in einer Zeit des Übergangs aus dem 1000-jährigen Reich, uns eine neue Orientierung gaben und auch die Liebe zur Natur erwachen ließen.
Aus den Erlebnissen wurden Erinnerungen und diese Erinnerungen sind mir 60 Jahre Mitgliedschaft wert gewesen.


Helmut Michaelis

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